Gewerkschaften: Gewerkschaftsbewegungen vor 1914

Gewerkschaften: Gewerkschaftsbewegungen vor 1914
Gewerkschaften: Gewerkschaftsbewegungen vor 1914
 
Aufstieg der britischen Gewerkschaften
 
Die britischen Gewerkschaften waren zunächst Organisationen einzelner Berufsverbände — Trade Councils. Seit 1868 gab es mit dem Trade Union Congress, der jährlich zusammentrat, eine gemeinsame organisatorische Plattform. Obwohl die Gewerkschaften seit 1824 nicht mehr verboten waren, hatten sie doch bis zur gesetzlichen Verankerung des Streikrechts 1875 in dem Moment als illegal gegolten, wo sie den Unternehmern durch Streiks Arbeit vorenthielten. Nach der neuen Gesetzgebung konnten sie in solchen Fällen nun nicht mehr wegen Bruchs des Arbeitsvertrags und Beeinträchtigung des Wirtschaftslebens vor Gericht verklagt werden. Der wirtschaftliche Aufschwung der frühen 1870er-Jahre hatte die Verhandlungsposition der gelernten Arbeiter verbessert. Der gewerkschaftliche Einfluss nahm vor allen Dingen in den großen Produktionseinheiten zu — bei der Eisenbahn, in den Bergwerken, auf den Werften und in den Eisenhütten.
 
Das wirtschaftliche Krisenjahr 1879 erschütterte jedoch die britischen Gewerkschaften schwer. Viele Organisationen lösten sich auf, einige der sozialen Errungenschaften des vorausgegangenen Jahrzehnts wie höhere Löhne und verkürzte Arbeitszeiten gingen wieder verloren. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen, verengter Gewinnspannen und nachlassender Exporte waren viele Unternehmer in den 1880er-Jahren immer weniger zu lohnpolitischen Zugeständnissen bereit. Auf der anderen Seite drangen die Gewerkschaften nun in immer weitere Industriebereiche ein und radikalisierten sich zusehends. An die Stelle der alten Handwerkertradition trat nun eine sozialistische Tendenz. Die Bergarbeiter, die die Gewerkschaftsbewegung prägten, schreckten auch vor gewalttätigen Streiks nicht zurück. Der Streik der Londoner Hafenarbeiter von 1889 brachte schließlich auch die ungelernten Arbeiter in die Gewerkschaften.
 
Bis 1914 stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf 4 Millionen. Die Ausbreitung der Massengewerkschaften ging einher mit einer gesteigerten Gewaltbereitschaft. Die Streiks und Aussperrungen zogen sich immer länger hin. In Ebbw Vale bei Newport kam es 1893 zu einer 15-wöchigen Aussperrung von Bergarbeitern, in deren Verlauf unter den Arbeitern kriminelle Banden gebildet wurden. Der Zusammenschluss von Bergarbeitern, Dockarbeitern und Eisenbahnern zur Triple-Alliance von 1911 und 1913 führte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wie sie Großbritannien seit den Tagen des Chartismus nicht mehr erlebt hatte.
 
 Gewerkschaften in Frankreich, Italien und Russland
 
In Frankreich hatte das Koalitionsverbot aus der Zeit der Französischen Revolution bis 1864 Bestand. Unter dem Namen von Krankenversicherungsvereinen gab es aber auch in jener Zeit Organisationen, die den Arbeitgebern Widerstand leisteten. Die Gewerkschaftsidee schien in Frankreich zunächst nur von denjenigen aufgegriffen zu werden, die dem Handwerk noch am nächsten standen und in kleinen Werkstätten arbeiteten. Ihre Verbände hingen nach wie vor dem Gedanken der Produktions- und Konsumgenossenschaft und des Kredits auf Gegenseitigkeit an.
 
In den Großbetrieben kam es gelegentlich zu harten und lang andauernden Streiks wie zum Beispiel 1864/65 bei den Bergleuten in Nordfrankreich und den Metallarbeitern von Lille. 1869/70 wurden Streiks durch den Einsatz von Truppen niedergeschlagen — so der Streik der Bergarbeiter von Saint-Étienne oder derjenige der Metallarbeiter von Le Creusot.
 
Die französische Gewerkschaftsbewegung organisierte sich erst nach 1886, als ein neues Gesetz den Gewerkschaften die volle Aktionsfreiheit garantierte. Den Kern der gewerkschaftlichen Tätigkeit bildeten dabei die Arbeiterbörsen, die Bourses de Travail. Dabei handelte es sich um parteiunabhängige Einrichtungen, die mit Unterstützung der kommunalen Behörden ihren Mitgliedern Arbeitsplätze vermittelten. Die Folge war eine starke Zersplitterung des französischen Gewerkschaftswesens. Im Jahr 1895 gab es 419000 Gewerkschaftsmitglieder, die sich jedoch auf 2163 Einzelgewerkschaften verteilten!
 
Syndikalistische Tendenzen
 
Seit den Tagen der Pariser Kommune war die französische Gewerkschaftsbewegung von einem tiefen Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen und jeder Form von parlamentarischer Politik erfüllt. Auch wenn anarchistische Aktionen gegen den Staat abgelehnt wurden, so war dieses syndikalistische gewerkschaftliche System doch vom Mythos der Gewalt und der direkten Aktion geprägt. Die 1895 gegründete Confédération Générale du Travail (CGT), die Dachorganisation der französischen Gewerkschaften, betrachtete den Streik nicht mehr nur als Mittel zur Verbesserung der konkreten Arbeitsbedingungen, sondern darüber hinaus in der Form des Generalstreiks auch als revolutionäre politische Waffe. Allerdings lehnte die Mehrheit der Gewerkschaften einen solchen revolutionären Generalstreik ab.
 
In Italien stand die Gewerkschaftsbewegung zunächst wie in Frankreich stark unter dem Einfluss syndikalistischer Strömungen. Die 1906 gegründete Confederazione Generale del Lavoro Italiano trennte sich jedoch von der syndikalistischen Richtung. Damit siegte die gemäßigte Richtung und setzte das deutsche Modell einer Anlehnung der Gewerkschaften an die sozialistische Parteibewegung durch.
 
In Russland konnte sich eine Organisation der Arbeiter nur in der Illegalität entwickeln. Eine ganze Serie erbitterter Streiks blieb allerdings erfolglos, sodass sich die russische Gewerkschaftsbewegung von vornherein politisierte. Nach der revolutionären Streikwelle von 1905 erhielten die russischen Arbeiter das Recht, Koalitionen zu bilden. Jedoch blieb ihnen jede überörtliche Vereinigung untersagt.
 
 Gewerkschaften in Deutschland
 
In Deutschland waren die Anfänge der Gewerkschaftsbewegung zunächst von den Handwerksmeistern und -gesellen der Revolutionszeit von 1848 geprägt. Auch in den Arbeiterbildungsvereinen und ersten Gewerkschaften der 1860er-Jahre waren nach wie vor die Handwerker bestimmend.
 
Anders als in Großbritannien kamen die Gewerkschaften in Deutschland erst im Sog der politischen Arbeiterbewegung zu Einfluss und Macht. Neben den in enger Verbindung zur Sozialdemokratie stehenden freien Gewerkschaften bildeten sich die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und die christlichen Gewerkschaften. Nach schweren Rückschlägen in der Zeit des Sozialistengesetzes gewannen die freien Gewerkschaften gegen Ende der 1880er-Jahre an Boden. Einen starken Anstoß zu dieser Entwicklung gaben erfolgreiche Massenstreiks wie der große Ruhrbergarbeiterstreik von 1889. Dieser Streik stieß in der Öffentlichkeit auf breites Verständnis; er wurde nicht zuletzt durch das vermittelnde Eingreifen der preußischen Regierung zu einem Teilerfolg der Gewerkschaften.
 
Seit 1890 verfügten die freien Gewerkschaften mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands über eine schlagkräftige Zentralorganisation. 1904 umfasste sie über eine Million Mitglieder und 1913 bereits 2,5 Millionen. Im Alltag pragmatisch orientiert, setzten die freien Gewerkschaften ganz auf eine Politik schrittweiser Verbesserungen im Rahmen des bestehenden politischen Systems der konstitutionellen Monarchie. Gleichzeitig verbesserten sich auch die Bedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit, da in den Boomjahren nach 1895 ein Rückgang der Arbeitslosigkeit einsetzte und bestimmte Arbeitergruppen in den neuen Großbetrieben aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Fachwissens über eine relativ starke Verhandlungsmacht verfügten.
 
Die Politik reagierte auf die Forderungen von Gewerkschaften und politischer Arbeiterbewegung mit einer Mischung von Unterdrückung und teilweisen Zugeständnissen. Nach dem Thronwechsel zu Wilhelm II. 1888 und dem Streik der Ruhrbergarbeiter 1889 gab es neue Ansätze zu einer staatlichen Sozialpolitik, nicht aber wirklich durchgreifende Reformen im wirtschaftlichen Bereich. Das Tarifsystem konnte sich vor 1914 nur in bestimmten Branchen wie Druck, Bau und Brauereien durchsetzen, in denen die Arbeiter über eine günstige Verhandlungsposition verfügten.
 
Ähnlich wie in Großbritannien erreichten die Gewerkschaften auch in Deutschland den entscheidenden Durchbruch während des Ersten Weltkriegs. Bis dahin diskriminierte Außenseiter, reihten sich die Gewerkschaften nun mit dem »Burgfrieden« in die Erfordernisse der Kriegswirtschaft ein. Das Vaterländische Hilfsdienstgesetz von 1916/17 stellte die industriellen Beziehungen in Deutschland auf eine völlig veränderte Grundlage. Löhne und Arbeitsbedingungen wurden nun zu öffentlichen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch zu verhandelnden Angelegenheiten.
 
 Gewerkschaften im Visier von Staat und Unternehmen
 
Die kollektive Organisation der Arbeitnehmer führte zu ähnlichen Organisationen im Unternehmerlager. In Großbritannien entstand 1898 ein Gesamtverband aller britischen Unternehmerverbände, der den Zweck verfolgte, sich bei Streiks branchenübergreifend beizustehen. Als im Winter 1903/04 im sächsischen Crimmitschau die dortigen Textilfabriken bestreikt wurden, gründeten die deutschen Unternehmer den Centralverband deutscher Industrieller und verpflichteten sich, ihren bedrängten Kollegen bis zur endgültigen Beendigung des Streiks finanzielle Unterstützung zu leisten. Besonders die Großbetriebe erwiesen sich für die Gewerkschaften als fast uneinnehmbare Bollwerke, da es den Unternehmern hier gelang, die Arbeiter durch den Bau von Werkswohnungen, die Gewährung von Kohledeputaten und zahlreichen Sozialleistungen an den Betrieb zu ketten.
 
Die Position der Gewerkschaften war um die Jahrhundertwende alles andere als dauerhaft gesichert. Die Zahl der verlorenen Streiks mehrte sich. In Südwales streikten von April bis November 1898 90000 Bergarbeiter. Der Hunger zwang sie schließlich zur Wiederaufnahme der Arbeit unter demütigenden Bedingungen. In Frankreich brach im gleichen Jahr ein Massenstreik der Eisenbahner und Bauarbeiter zusammen. Auch Russland sah in den letzten Jahren des Jahrhunderts eine Reihe von Massenstreiks. Obwohl dort zeitweise die gesamte Textilindustrie lahm gelegt war, blieb eine nachhaltige Verbesserung der sozialen Lage aus.
 
Überall gab es in den 1890er-Jahren Bestrebungen der Regierungen, das Streikrecht wieder einzugrenzen. Eine sehr harte Auslegung des Paragraphen 153 der Gewerbeordnung durch deutsche Gerichte bedrohte alle mit Gefängnisstrafe, die andere »durch Anwendung körperlichen Zwangs« veranlassen wollten, an Koalitionen teilzunehmen. Selbst harmlose Übergriffe von Streikposten wurden in der Folge hart bestraft. Tendenzen zur Verschärfung der rechtlichen Bestimmungen des Arbeitskampfs gab es auch in den Niederlanden und in der Schweiz. Noch schlimmer traf es die britischen Gewerkschaften. Dort stellte ein höchstrichterliches Urteil von 1901 fest, dass die Gewerkschaften für finanzielle Schäden, die durch Streiks verursacht wurden, haftbar gemacht werden könnten. 1906 wurde der alte Rechtszustand wiederhergestellt.
 
1905 kam es überall in Europa zu einer neuen Streikwelle. Am Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet im Januar 1905 beteiligten sich 190000 der insgesamt 224000 Arbeiter. In Sankt Petersburg brach fast gleichzeitig ein Massenstreik aus. Dort richteten Regierungstruppen ein furchtbares Blutbad unter den wehrlosen Demonstranten an. Die anschließenden Protestbewegungen im ganzen Land zwangen das Regime im Herbst zum Erlass des Oktobermanifests. 1911 gab es in Großbritannien einen großen Eisenbahnerstreik und 1912 einen Bergarbeiterstreik. Die britische Öffentlichkeit war bestürzt über die Macht und den Einfluss der großen Bergarbeiter-, Eisenbahner- und Transportarbeitergewerkschaften, die sich zu einem entscheidenden Faktor im politischen und wirtschaftlichen Leben Großbritanniens entwickelt hatten. Sie verstanden sich dabei als betont antimarxistisch und national.
 
In Deutschland erreichten die Streiks 1912 einen weiteren Höhepunkt, als fast eine halbe Million Menschen aus den unterschiedlichsten Industriezweigen in den Streik trat. Auch in Russland kam es zu einer neuerlichen, wiederum blutig unterdrückten Streikwelle. Die Klassengegensätze schienen in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schärfer denn je zu sein. Die Regierungen konnten sich unter diesem Druck weiteren sozialpolitischen Reformen nicht mehr verschließen. Frankreich begründete 1910 eine allgemeine Alters- und Invaliditätsversicherung. Großbritannien führte mit dem National Insurance Act von 1911 ein Sozialversicherungssystem ein, und Deutschland stellte mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 sein System auf eine breitere Grundlage. Es war abzusehen, dass sich die europäischen Staaten unter dem Druck der Arbeiterschaft auf dem Wege zum Wohlfahrtsstaat befanden. Diese Tendenz setzte sich nach dem Kriege vollends durch.
 
Gewerkschaftliche Sonderbedingungen in den USA
 
In den USA sahen sich die Gewerkschaften ganz anderen Ausgangsbedingungen gegenüber: Der amerikanische Industriearbeiter, besser bezahlt als seine europäischen Kollegen, entwickelte keine klassenkämpferische Einstellung, zumal er auch nicht den europäischen Traditionshintergrund einer Regelung des Wirtschaftslebens durch Staat und Zünfte hatte.
 
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden größere Arbeiterorganisationen. Aus einer Geheimorganisation zur Abwehr repressiver Maßnahmen der Arbeitgeber entstanden die Knights of Labor. Auf berufsständischer, locker gefügter Basis wurde 1886 von neunzig Facharbeiterorganisationen der Dachverband American Federation of Labor gegründet; erst 1937 bildete sich mit dem Congress of Industrial Organizations eine Arbeiterorganisation auf der Grundlage von Industrieverbänden. Die amerikanischen Gewerkschaften hatten zunächst mit erheblichen Rassengegensätzen zu kämpfen, da die Industrie die besser ausgebildeten weißen Einwanderer bevorzugte und die Gewerkschaften Farbigen lange die Aufnahme versagten oder für sie gesonderte Organisationen schufen. Erst der allgemeine Arbeitermangel während des Ersten Weltkriegs weichte diese Fronten auf.
 
Prof. Dr. Hans-Werner Niemann, Oldenburg
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Arbeiterbewegung: Anfänge der Arbeiterbewegung

Universal-Lexikon. 2012.

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